„Wir sind nicht nur Opfer eines Terroranschlags, wir sind auch Kriegspartei“, lesen wir in einem Artikel im Handelsblatt nach den Attentaten in Paris am 13.11.2015. Der Artikel trägt den grauenhaften Titel: Weltkrieg III. So, als ginge es nur um ein Update. Mittags zeigt das Fernsehen das Interview eines syrischen Emigranten, der vor eben diesem Terror geflohen ist: „Das ist kein Krieg“, sagt er, „Wenn Ihr wissen wollt, wie sich ein Krieg anfühlt, kommt nach Syrien“. Krieg oder nicht, als Mediatoren fragen wir natürlich, ob die Mediation dazu beitragen kann, einen Ausweg zu finden. Die Antwort lautet: ja!
Wir sind was wir sein wollen.
Wenn Terror ein Produkt der Gesellschaft ist, dann bewirkt bereits die gesellschaftliche Veränderung eine Terrorabwehr. Paradoxer Weise ist der Terror selbst Auslöser für Veränderungen in die eine wie in die andere Richtung. Wir haben es in der Hand, in welche Richtung die Reise geht. Es gibt durchaus positive Impulse. Allerdings konkurrieren Einsicht und Einigkeit – wie in einer Ambivalenzphase typisch – mit Angst und Hass. Zu Recht wird Besonnenheit eingefordert, damit sich die Einsicht durchsetzen kann.
Eines steht fest: Mehr vom Selben bedeutet mehr Terror und Krieg. Zu dieser Feststellung kommt Gabor Steingart in dem bereits zitierten Artikel. Ob die Mediation generell einen Beitrag dazu leisten kann, die Gesellschaft zu verändern, ist das Leitthema der Konferenz „Verstehen 3.0“ am 28./29. November in Köln. Hier treffen sich Experten aus Russland, Griechenland, Lettland, Polen, Österreich und Deutschland, um dieser Frage auf den Grund zu gehen. Die Antwort vorweggenommen heißt:
Ja, die Mediation kann die Gesellschaft verändern. Nicht, wenn wir uns die Mediation als ein nachzufragendes Verfahren vorstellen, sondern wenn wir sie uns als integrierte Mediation denken, in der die mediative Art des Denkens und des Herangehens an Problemlösungen im Vordergrund steht. Diese Mediation kann die Gesellschaft verändern, weil sie das Denken verändert.
Was hat das mit den Anschlägen in Paris zu tun und was nutzt es, wenn die Einen ihr Denken verändern die anderen aber nicht? Terror und Mediation – dass passt doch gar nicht zusammen. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Genauer betrachtet geht es um hoch eskalierte Konflikte. Schon deshalb ist die Auseinandersetzung mit den Attentaten in Paris zweifellos auch ein Thema der Mediation. Hoch eskalierte Konflikte zeichnen sich durch Irrationalität aus. Die Irrationalität äußert sich nicht nur im Verhalten, sondern auch in der Sprache. Das Wort Krieg wird zu ihrem Ausdruck. Der Krieg wurde bereits nach dem 11.9.2001 ausgerufen. Er hat ein Verbrechen geadelt und einen politischen Konflikt begründet wo es um die Ahndung von Straftaten geht. Die Konsequenzen sind bekannt. Recht wird auf beiden Seiten gebrochen. Haben wir daraus nicht mehr gelernt, als dass dieser so genannte Krieg zu einer Generationenaufgabe angeschwollen ist? Es ist schon interessant was wir unseren Kindern alles hinterlassen.
Wollten wir wie Mediatoren denken, würden wir zunächst verstehen wollen, was überhaupt passiert und was das alles bedeutet. Wir würden zuhören, unparteiisch. Wir würden hören, dass die Attentäter von Rache als Motiv sprechen und von Kreuzzügen, deren sie sich erwehren müssten. Wir würden hören, dass in dem Attentat ein Präventivschlag gesehen wird, verbunden mit der Drohung weiterer Terrorakte, um Einmischungen zu verhindern. Das klingt wie eine Position. Wir verstehen sie nicht, weil sie mit unserer Realität nicht übereinstimmt. Es ist auch nicht klar, ob es sich um eine Angriffs- oder um eine Verteidigungsposition handelt. Von außen betrachtet hört es sich ähnlich an wie das, was die Gegenseite behauptet. Als Betroffene sehen wir uns reagierend. Wir sehen uns in unserer Freiheit angegriffen. Ein Angriffsziel, das übrigens von den Attentätern so nicht benannt wird. Man könnte in den Attentaten genauso gut einen Angriff auf die Menschheit sehen. Dann würde Allen bewusst, dass nicht nur der Gegner, sondern auch der Täter das Angriffsziel ist und dass beide Parteien den gleichen Feind bekämpfen, sich selbst.
Wenn es also ein Krieg sein soll, dann ist es ein sinnloser Krieg. Die Einen beginnen, die offene freiheitliche Gesellschaft, die sie verteidigen wollen, zu demontieren. Die anderen unterwerfen Menschen einem Glauben, wodurch sie dem Glauben jegliche Basis entziehen. In beiden Fällen ist schon jetzt klar, dass die erklärten Ziele nicht zu erreichen sind. Das klingt nach einem Dilemma. Es macht den Krieg so fürchterlich dumm und sinnlos, wenn es nicht um etwas ganz anderes geht.
Ein Mediator würde das Spiel der Kräfte verstehen wollen, ehe er es den Parteien zumutet, irgendeine Entscheidung über Lösungen zu treffen. Er würde versuchen, die Motive zu erhellen; so lange, bis er die Beweggründe nachvollziehen kann. Die Motive erklären die Bedeutungen. Ein Mediator müsste keine Ursachen kennen. Er würde die Verantwortlichkeiten für die Konfliktlösung herausfinden, ohne nach Schuld zu suchen. Gabor Steingart führt aus:
„… für das feindliche Klima zwischen den Kulturkreisen trägt der Westen eine Mitschuld. Von den 1,3 Millionen Menschenleben, die das Kriegsgeschehen von Afghanistan bis Syrien mittlerweile gekostet hat, bringt es allein der unter falschen Prämissen und damit völkerrechtswidrig geführte Irak-Feldzug auf 800.000 Tote. Die Mehrzahl der Opfer waren friedliebende Muslime, keine Terroristen“.
Vielleicht ist das der Grund, warum von Kreuzzügen die Rede ist. Der Leser wird jedenfalls nachdenklich und fragt: Wenn dem so ist und wenn wir uns als Wächter des Völkerrechts begreifen, wer hat uns für diesen völkerrechtswidrigen Krieg zur Rechenschaft gezogen? Ist nicht die Frage angebracht, ob hier mit ungleichem Maß gerichtet wird? Ist diese Frage gegebenenfalls der Schlüssel zur Lösung? Hier meint offenbar jeder, er könne über den anderen richten. Der lesenswerte Artikel von Gabor Steingart führt weiter aus:
„… der Automatismus von Härte und Gnadenlosigkeit, das vorsätzliche Nicht-Verstehen des anderen, die feurigen Reden an das jeweils heimische Publikum, die schnell in Marsch gesetzten Bombergeschwader haben uns in diesem Kampf der Kulturen dahin gebracht, wo wir heute stehen. So beendet man den Terror nicht, sondern facht ihn weiter an. So schafft man keinen Frieden, so züchtet man Selbstmordattentäter. Die bürgerliche Mitte unseres Landes sollte sich nicht radikalisieren, sondern sich ihrer vornehmsten Tugenden erinnern: Besonnenheit und Friedfertigkeit. Mehr Verantwortung übernehmen, das kann nach den Anschlägen von Paris nur mehr Nachdenklichkeit bedeuten. Militärs und Geheimdienste müssen ihre Arbeit tun, aber die Politik und die Gesellschaft ihre auch“.
Das klingt wie ein mediativer Ansatz. Wir kommen nicht an der Frage vorbei:
Was wollen wir sein?
„Was“ und „wir“ sind austauschbare Parameter. „Wir“ sind nicht nur die Franzosen, Europäer, Amerikaner, Russen, Türken, Kurden, Sunniten, Schiiten und wie wir alle heißen. Und „was“ sind nicht nur Opfer und Krieger. Es sind auch Väter und Mütter, Kinder und Eltern, Freunde, Kollegen und vor allem Landsleute und sogar Glaubensbrüder. Was geschieht eigentlich, wenn der Attentäter nicht ausschließen kann, dass sich unter den attackierten Menschenmassen auch seine Glaubensbrüder befinden? Erlauben Selbstmordattentate auch den willkürlichen Brudermord? Wäre es gegebenenfalls ein guter Schutz, immer einen Dschihadisten um sich zu haben? Wäre die Integration dann ein Mittel, Attentate zu verhindern?
Mediatoren können durchaus einen Beitrag leisten, indem sie zum Nachdcenken anregen. Wenn sie helfen, das Denken in eine mediative Richtung zu lenken; indem sie die Metasicht offenbaren; indem sie Werte hinterfragen und helfen, klar zu machen, was Krieg bedeutet. Nicht indem sie fragen, wer angefangen hat, wer im Recht ist oder wer schuld hat, sondern indem sie die Frage in die Richtung lenken, wie man da wieder herauskommt. Um die richtige Lösung zu finden, muss ein Mediator nicht wissen, wie es zu dem Konflikt gekommen ist. Er muss sich auch nicht auf dumpfe Spekulationen und Hochrechnungen einlassen, aus denen sich die Katastrophe als eine self-fullfilling Prophecy herleitet (etwa als der Krieg mit dem sich die Generationen noch zu befassen haben). Er will nur wissen, wie die Welt (aus der Sicht jeder Partei) aussehen soll, wenn alles in Ordnung ist. Glauben Sie wirklich, die Kriegsmathematik ist so einfach, dass die Guten eine Welt des Friedens und die Bösen jenseits einer Achse eine Welt des Krieges wollten? Ist es nicht so, dass zwar jeder eine Welt des Friedens will, dass aber keiner eine Idee davon hat, wie das unter Wahrung der eigenen Interessen zusammengeht? Klingt wie ein Fall für die Mediation. Ein Mediator jedenfalls würde die Komplexität erkennen und die unterschiedlichen Interessen zusammenführen können. Er würde darauf achten, dass alle am Verhandlungstisch sitzen und dass eine Klarheit darüber entsteht, was man eigentlich erreichen will.
So wie es im Moment aussieht, wollen alle Seiten den Krieg. Oder anders formuliert: Nicht alle wollen den Frieden. Wollten sie ihn, hätten wir ihn. Wer entscheidet eigentlich darüber, wer mit wem, gegen wen und wofür in den Krieg zieht? Wer ist der Gegner? Der Mann auf der Straße in Paris oder in Rakka? Wir wissen es nicht mehr. So wie es aussieht kann es jeder sein, dem man auf der Straße begegnet. Jeder ist verdächtig. Die Willkür passt ins Chaos. Wird so Terrorismus geschaffen oder verhindert?
Ein Mediator würde überlegen, wie die Vernunft eine Chance bekommt. Er würde versuchen, einen Dialog zu installieren, bei dem solche Fragen geklärt werden können. Die Aggressionen wollen eine Unterwerfung erzwingen. Der integrierte Mediator würde versuchen die Aggressionen so umzulenken, dass sie Verhandlungen erzwingen.
Was muss geschehen, um Verhandlungen zu ermöglichen?
Bei allem gibt es auch positive Ansätze. Immerhin schließt sich die Welt der erklärten Gegner zusammen, um nach Wegen zu suchen, die Bedrohung zu beenden. US-Präsident Obama und Russlands Staatschef Putin reden wieder miteinander. Auch die Reaktionen der Bundeskanzlerin auf die Militärschläge der französischen Luftwaffe in Syrien lässt hoffen. Sie hat erkannt, dass der Kampf gegen den Terrorismus nicht militärisch zu gewinnen ist. Schließlich gibt es Ansätze, die verhindern wollen, dass die Attentate für politische Interessen etwa im Zusammenhang mit der Flüchtlingsdiskussion missbraucht werden.
Es wäre schön, wenn statt der Attentate die Frage der Integration und das friedliche Miteinander thematisiert werden, ebenso wie die Bedeutung der Religion und die Verwirklichung der Menschenrechte auf allen Seiten des Konfliktes. Es wäre schön, wenn die Politiker gelernt haben, dass die Politik niemanden vergessen sollte, wenn es darum geht, die Grundbedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Worüber man auch nachdenken sollte ist die Frage, wie sich korrekte, auf Fakten basierte Meinungen bilden lassen und wie verhindert wird, dass Meinungen zur Manipulation missbraucht werden. Polemik und subtile sprachliche Manipulationen, zu der sich leider auch seriöse Zeitungen verführen lassen, sollten in dieser emotional angeheizten Situation unbedingt vermieden werden. Ein Meinungsaustausch muss möglich sein. Sorgen müssen geäußert werden können. Fakten gehören auf den Tisch. Eine Reflexion über Meinungen und ein Austausch muss aber auch möglich sein. Selbst wenn die Meinungen feindlich klingen. Sachlichkeit ist angesagt und Besonnenheit. Hier könnten Mediatoren einen weiteren Beitrag leisten (z.B. Open Eyes). Sie sind darauf trainiert, Informationen wertfrei entgegen zu nehmen und die richtigen Fragen zu formulieren. Die richtige Frage ist: Wie sieht die Welt aus, wenn sie in Ordnung ist und demzufolge …
Was wollen wir eigentlich erreichen?
Wenn es Frieden ist, dann könnte Krieg das falsche Mittel sein.
Lieber Arthur,
Du spricht aus, was viele nicht wagen. Als „Zuschauer“ sind wir ebenfalls gefordert „sofort“ Stellung zu beziehen – dafür/dagegen Schengen/Nicht-Schengen, Ausländer willkommen/Ausländer raus. Es sind genau diese Extreme, die einen Dialog, ein Verstehen und eine Lösung verhindern. Und doch sehe ich mit Schrecken, das genau diese Positionen zunehmen und jedenfalls laut schreien. Es ist genau so, wie bei einem „kleinen“ Fall, bei dem unsere Medianden durch Verfestigung der Positionen, Involvierung von noch nicht bekennenden Dritten versuchen, die eigenen Zweifel und Ängste zu überwinden, statt an eine Lösung zu denken.
Von daher glaube ich auch, das wir von der integrierten Mediation einen Beitrag leisten können und müssen. Da ist Mut ein Charakterzug, den es dringend benötigt (in Anlehnung an den Vorkommentar). Mitschwimmen kann man schließlich sehr leicht…
Ich freue mich sehr auf unseren Kongress und ein Miteinander, das auch Zweifel, Fragen und Erkenntnisse erlaubt!
Amin
Lieber Arthur
ich finde das einen wichtigen, sehr mutigen Beutrag zur aktuellen Lage und Diskussion in unserem Land