ich möchte heute gern von einer interessanten Erfahrung berichten, die ich beim Üben des Paraphrasierens gemacht habe. Ein Freund zeigte eines Tages deutliche Anzeichen von Unwohlsein, er wirkte angespannt und unruhig. Zunächst sprach er davon, dass er sich Sorgen mache, ob das Geld für seine Altersvorsorge richtig angelegt sei. Ich paraphrasierte und bekam ständig „Neins“, woraufhin ich dann immer loopte und zu meiner Verblüffung jedes Mal eine etwas abgewandelte Geschichte erzählt bekam, die ich wieder paraphrasierte, wieder ein „Nein“ bekam und deshalb wieder loopte.
So ging das eine ganze Weile. Es spannte sich dabei ein großer Bogen auf, der bei der Sorge um die Altersvorsorge begann und schließlich bei Problemen mit dem Chef ankam. Zunächst machte sich sein Ärger über den Chef Luft, der in letzter Zeit fahrig und führungsschwach sei. Dabei erfuhr ich auch, dass in seinem Unternehmen vor Kurzem eine Strategieänderung stattgefunden hatte, bei der der unteren Führungsebene, also seinem Chef, mehr Verantwortung übertragen worden war. Unserem Freund wurde klar, dass sein Vorgesetzter wohl nervlich damit momentan nicht klar kam und deshalb so fahrig war. Er selbst war seinem Vorgesetzten wohl ständig ins Gehege gekommen, weil ihm die Fehler, die dieser machte, aus seiner ruhigeren Position heraus natürlich aufgefallen waren. Das führte zu ständigen nervigen Kabbeleien zwischen den beiden, die sich eigentlich seit Jahren prima verstanden hatten. Unser Freund brachte seinen Chef quasi ständig wieder in die „richtige Spur“. Wenn er das tat, war der Chef auch plötzlich in der Lage, die Abteilung gut strukturiert zu führen. Da sagte ich, dass es merkwürdig sei, dass der Chef solche Leistungsschwankungen hatte, denn man sah ja an diesen Beispielen, dass er seinen Job eigentlich beherrscht. Meinem Bekannten wurde daraufhin klar, dass sein Vorgesetzter diese Leistungstiefs anscheinend immer dann hat, wenn ihm die Nerven aufgrund des erhöhten Drucks von oben durchgehen, und erkannte, dass er ihn durch seine Kritik dann zusätzlich noch von unten unter Druck setzte. Ich fragte, wie er denn seinen Chef in dieser Situation unterstützen könnte. Er meinte, dass er ihn vielleicht eher in dem bestärken sollte, was er gut macht, statt eine zu kritische Haltung einzunehmen. Als wir ihn das nächste Mal trafen, berichtete unser Freund von seinem alljährlichen Mitarbeitergespräch mit seinem Chef, das vor Kurzem stattgefunden hatte. Sein Vorgesetzter hatte ihn dort als den umgänglichsten Mitarbeiter, den er hätte, gelobt.
Diese Erfahrung war für mich einigermaßen verblüffend. Vieles, was ich gerade im Ordner gelesen habe, wurde dadurch bestätigt, z.B. dass es nie um Geld geht, sondern dass Sorgen um Geld immer für tieferliegende Sorgen stehen. Aber der ganze Prozess war für mich schon sehr erstaunlich. Erst dachte ich, ich sei die totale Niete im Paraphrasieren, weil immer diese „Neins“ kamen. Dann war ich erstaunt, wie stark die Geschichten sich veränderten, die ich nach den „Neins“ zu hören bekam. Das erste „Ja“ bekam ich wirklich erst, als ich das Problem mit dem Chef paraphrasierte, dass er diese extremen Leistungsschwankungen zeigt und dass es deswegen zwischen den beiden zu Auseinandersetzungen gekommen war. Da lief das Gespräch aber schon gut 20 Minuten! Nachdem diese Situation mit allen Ursachen klar auf der Hand lag, bedurfte es nur einer Frage, nämlich der, wie er seinen Chef denn jetzt unterstützen könnte. Die Lösung kam ganz allein von ihm. Ich habe keine Ratschläge erteilt und wirklich „nichts“ gemacht.
Das Ganze hat mir sehr zu denken gegeben und viele Fragen aufgeworfen. Wissen wir Menschen eigentlich überhaupt, wenn wir uns unwohl fühlen, warum wir uns unwohl fühlen? Oder ordnen wir unserem Unwohlsein einfach nur das Erstbeste zu, das uns über den Weg läuft? Wenn wir uns also schon selbst nicht verstehen, selbst nicht wissen, warum es uns nicht gut geht, wie sollen wir uns dann mit anderen verstehen? Mit anderen, die womöglich auch nicht wissen, warum und womit sie sich eigentlich unwohl fühlen? Diese Fragen haben bei mir in Verbindung mit dem, was ich bei Dir über Mediation gelernt habe, noch zu weitergehenden Vermutungen geführt. Gibt es Streit überhaupt wirklich, oder ist er nur eine Illusion? Meine Theorie wäre dann, dass Konflikte dadurch entstehen, dass verschiedene Wirklichkeitskonstrukte und Ego-Konstrukte aufeinanderprallen. Die Mediation funktioniert, indem durch verschiedene Gesprächstechniken, wie z.B. dem Paraphrasieren oder der Mäeutik, diese Konstrukte aufgelöst werden. Dadurch landen die Beteiligten bei dem, was eigentlich wirklich los ist. Und bei dem, was wirklich los ist, gibt es keinen Grund zu streiten, denn das lohnt sich, worauf wir von Dir hingewiesen wurden, weder bei Fakten, noch bei Meinungen oder Emotionen. In diesem Sinne kann ich wieder nur Dich zitieren: „Vertraue auf die Macht!“ Mein Verständnis dieses Satzes lautet momentan folgendermaßen: Vertraue darauf, dass es Streit eigentlich gar nicht gibt, weil nur verschiedene Konstrukte von Wirklichkeit aufeinander prallen. Vertraue darauf, dass der Streit sich in Nichts auflöst, sobald diese Konstrukte aufgelöst sind. Vertraue darauf, dass sich gute Lösungen dann von allein ergeben.
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