Bei der Auseinandersetzung mit dem Thema „Stressbewältigung“ bzw. „Burnout“ bin ich auf das Buzzword „Achtsamkeit“ gestoßen. In den USA wird der Begriff „buzzword“ häufig für Wörter verwendet, die Eindruck schinden sollen und Tiefe vortäuschen, wo vielleicht „Flachheit“ herrscht. Trotzdem halte ich diesen Begriff, den ich jetzt nicht in seiner esoterischen Form verwenden möchte, für einen überaus wichtigen Begriff – gerade auch in der Mediation.

Wir kennen zwar den Begriff der „Haltung“ bei der Mediation. Gemeint ist damit die besondere Herangehensweise, die individuelle Art und Weise, wie jemand denkt, seine Umwelt betrachtet und sich ihr gegenüber verhält. Es ist eine Einstellung oder Anschauung damit verbunden, eine Geisteshaltung, ein Verständnis, bei der es kein „richtig“ oder „falsch“ gibt. Wohl aber ein „anders“. Mit „Achtsamkeit“ in der Mediation sehe ich jedoch ein anderes Phänomen beschrieben. Man könnte sagen: Mit einer bestimmten Haltung gehe ich in die Mediation; mit der „Achtsamkeit“ bin ich aber erst auch ganz „gegenwärtig“ im Mediationsgeschehen selbst. Wie ist das zu verstehen?

Während „Haltung“ sehr viel mit Denken zu tun hat, ist der Aspekt der „Achtsamkeit“ (völlig) losgelöst vom eigentlichen Denken, insbesondere vom eigenen Denken. Nicht dass das Denken „ausgeschaltet“ wäre, aber unser Denken und Wahrnehmen werden nicht mehr (so sehr) bestimmt durch die Bedeutungen, die wir den Dingen in unserem Leben beimessen. Denn sie sind es, die die Sicht unserer Welt prägen– durch Glaubenssätze oder –muster. Und davon will die „Achtsamkeit“ uns im Rahmen der Mediation „befreien“. Wir können uns das (denkerisch) vornehmen; aber es bedarf erst der „Achtsamkeit“, damit dies tatsächlich gelingt.

Auch Emotionen bestimmen uns fortwährend in der Mediation oder versuchen es doch zumindest. Ohne die bestimmte „Achtsamkeit“ würde ich ihnen zu viel Raum geben und den Prozess vielleicht gefährden. In der Verhaltenstherapie sind achtsamkeitsbasierte Ansätze längst die Regel und zentraler Inhalt des Prozesses. Auch in der Systemischen Beratung findet sich das Konzept. „Achtsamkeit“ weiß um die Veränderlichkeit der Wahrnehmung, die Unbeständigkeit des Geistes und die Vergänglichkeit von Worten oder Phänomenen. BANZHAF (2010) sieht in ihr den „unmittelbaren Augenblick mit einer nicht-wertenden und annehmenden Haltung“. Es geht um das, was wir gerade jetzt fühlen, denken oder tun – ohne uns in Erinnerungen, Grübeleien oder Zukunftsplanungen gefangen nehmen zu lassen. Es ist damit der Augenblick gemeint, der uns davon frei macht, irgendwie korrigierend, beeinflussend oder autoritativ einzugreifen. Wie gesagt – wir können uns das vornehmen, die rechte Haltung dazu haben; aber erst die „Achtsamkeit“ generiert den „Erfolg“ bzw. lässt die Mediation gelingen.

Achtsamkeit ist also unmittelbar. Annehmend und nicht-wertend. Absichtlich. Sie ist die Hingabe an den Augenblick, für das bestimmte Thema und die Person, wie sie sich uns gerade offenbart. Vielleicht sind das Thema und die Person im nächsten Augenblick schon wieder ganz anders. Wichtig ist, dass ich den Menschen sehe, der mir gerade gegenübersitzt – und nicht wie ich ihn mir vorstelle, wie er sein sollte oder sein müsste. Das hat auch etwas mit Respekt und Integrität zu tun.

BALFANZ (2010)1 unterscheidet in seinem Vortrag über „Stressbewältigung und Burnoutprophylaxesieben Grundpfeiler der Achtsamkeit, die ich auf die Mediation übertragen und etwas verändert benennen möchte:

  1. Geduld (Jetzt – Vergangenheit – Zukunft)
  2. Nicht-Beurteilen (neutraler Beobachter)
  3. Den Geist des „Anfängers“ bewahren (keine vorgefassten Meinungen, Ansichten, Konzepte)
  4. Loslassen (kein Anhaften an gemachten Äußerungen, Gesten, u.ä.)
  5. Nicht-Greifen (keine Ziele – außer Hypothesen)
  6. Vertrauen (in den Prozess der Mediation, „flow“, magic mediation)
  7. Akzeptanz (Annehmen, was im Moment ist; keine Erwartungen, keine Befürchtungen).

Was bewirkt die „Achtsamkeit“? Uns werden Gewohnheiten, die Art und Weise unseres Handelns, bewusst. Wir lernen, die momentane Situation zu akzeptieren; wir konstruieren uns nicht einen Raum oder eine Situation, wie wir sie gerne hätten. Im Gegenteil: wir nehmen eigene Bedürfnisse wahr und lassen dadurch Wahlmöglichkeiten und Flexibilität entstehen. Es entsteht dadurch ein eigenständiges Handeln, eine Selbstwirksamkeit – also genau das, was Arthur TROSSEN immer als den „flow“ beschrieben hat. Mediation läuft „von selbst“ ab – oder sollte es zumindest! Das reduziert den Stress für den Mediator, ebenso wie für die Medianten. „Achtsamkeit“ führt uns dazu, die Wahrnehmungen nicht (voreilig) zu bewerten. Vielleicht ist eine Geste, ein Wort, eine Bemerkung ja ganz anders gemeint, als wir dachten. Mit einem achtsamen Verhalten vermeiden wir daher „falsche“ Wege oder ein Steckenbleiben in Schleifen. Wir vermeiden eine zu starke Zentrierung oder Fixierung auf ein (möglicherweise falsches) Ziel und wir vermeiden eine Automatisierung des Prozessablaufes. Die gemachten Erfahrungen und das „Vorwissen“ des Mediators sind dann keine Hinderungsgründe mehr für die Mediation.

Achtsamkeit“ erhöht andererseits die Präsenz für die Mediation. Ich bin mitten im Geschehen und nicht abgelenkt durch meine Expertenerfahrung. Damit erhöht sich zugleich meine Aufmerksamkeit für das Gesagte. Auch die Qualität der Mediation selbst verbessert sich. Der Beratungsguru Otto SCHARMER („Theorie U“)  ging sogar so weit zu sagen „Es gibt keine Technik, nur Achtsamkeit“.

Es ist klar, dass auch in der Mediation dem Faktor „Beziehung“ eine größere Bedeutung zukommt als den angewandten Methoden und Techniken. Aus systemischer Sicht (vgl. Gregory BATESON) lassen sich Systeme auch gar nicht kontrollieren; nach MATURANA lassen sie sich schon gar nicht von außen determinieren. Insofern geht es auch in der Mediation umso mehr um gelingende Kooperation mit den Medianten. Kooperation, die Beziehung zu den Medianten, hat auch etwas mit der Art und Weise zu tun, wie wir ihnen begegnen, wie wir die Beziehung zu ihnen aufbauen und wie wir die Bindung zu ihnen gestalten. Gemeint ist damit die Neutralität des Mediators ihnen gegenüber.

Neutralität kann aber nur wahren“, schreiben Bernd LINDER-HOFMANN / Manfred ZINK2 in ihrer Betrachtung zur „Achtsamkeit“ in der systemischen Beratung und im Coaching, „wer achtsam die Beobachterperspektive einnimmt, wer um die eigenen „Schatten“ und die „nichtfunktionalen Anteile“ seiner Beraterprofessionalität weiß“. Das Gesagte gilt auch für die Mediation. Wer das „So-Sein“ im Mediationsprozess vorbehaltlos annehmen und die Haltung des „Loslassenden – Einlassens“ einnehmen kann, ist dann wirklich neutral. Ihm wird die „fremde Realität“ zugemutet, mit der er vielleicht so seine Probleme hat. Es ist der Respekt vor dem Unterschied der Andersartigkeit, der dabei das eigene Urteil in der Schwebe hält. „Achtsamkeit“ bezieht sich damit auf den Umgang mit sich selbst und mit den Medianten und auf den Mediationsprozess. Dass die Medianten selbst die Lösung finden (sollen und müssen), setzt ja geradezu diese „Achtsamkeit“ voraus! Erst dadurch „gelingt“ die Mediation.

LINDER-HOFMANN / ZINK sehen demzufolge die „Achtsamkeit“ mit der bestimmten Zeit (dem kairos) verbunden.3 Wir können ja das vermeintlich „Richtige“ – aber doch zur falschen Zeit – tun; die Mediation scheitert dann oder will erst gar nicht gelingen. Wir sind noch zu sehr auf eine Lösung (wie wir sie sehen) fixiert. Uns fehlt  das notwendige sinnvolle „Verweilen, Anhalten, das Warten-Können, das Verzögern von Interventionen“ oder wir vernachlässigen es. Auch in der Mediation gibt es also den „rechten Augenblick“ – also Zeitpunkte, die den Verlauf der Mediation und des Ergebnisses nachhaltig beeinflussen. Es geht um das „WANN des WAS“. Wann ist in der Mediation der rechte Zeitpunkt etwas zu tun? Wann – etwas zu lassen? Wann soll ich fragen, schweigen, etwas mehr oder weniger tun, irgendwo länger oder kürzer verharren bzw. intervenieren? Wann soll ich etwas anderes tun? Vielleicht sogar etwas ganz anderes? Ohne ein „Reflektierendes Team“ – wie in der Systemischen Beratung oder ohneAchtsamkeit“ werde ich es vielleicht gar nicht wissen.

Klar ist auch, dass ich aus keinem Buch und durch keine noch so gelungene Schulung den kairos, den rechten Augenblick, herauslesen kann. Er ist schlichtweg nicht vermittelbar. Erst die „Achtsamkeit“ schenkt und wirkt diesen „fixen“ Punkt. LINDER-HOFMANN / ZINK schreiben: „Es geht …  darum, die Fülle des Augenblicks präsent zu erfahren, keinen Gedanken, weder an das Gewesene noch an das Zukünftige zu verschwenden, sondern nur gegenwärtig zu sein, frei von Anhaftungen an Vorurteile, Vorkategorisierungen und Vorannahmen. Es geht darum, der Viel-Sichtigkeit und Viel-Stimmigkeit des Gegenübers einen sinnvollen Raum zu ermöglichen und diesen auch aufrechtzuerhalten, um Lösungsressourcen nicht von Beginn an auf die Person des [Mediators] und dessen Lösungsrepertoire einzuschränken“. Es geht also um „Lösungsorientierung“ und nicht um „Lösungsfixierung“!

Was ist das Resultat der „Achtsamkeit“?

Achtsamkeit verändert die Erfahrung nicht, aber vertieft sie. Man wird fähig, die sich aufbauenden Reaktionen und die ihnen zugrunde liegenden Motive deutlich zu beobachten. Es entsteht ein Raum zwischen Wahrnehmung und Reaktion. In diesem Raum können bewusste Entscheidungen getroffen werden. 4

 

Hugo Kopanitsak
30.11.2011

 

Literaturhinweise:

1 Dr. med. Harald Banzhaf, Stressbewältigung und Burnoutprophylaxe durch Achtsamkeit und Mitgefühl – ein emotionsbasiertes Konzept, Vortrag am 24.04.10, 12. Heidelberger Tag der Allgemeinmedizin

2 Bernd Linder-Hofmann / Manfred Zink, Achtsamkeit in systemischer Beratung und im Coaching, download aus dem Internet
3 Im Gegensatz dazu meint „chronos“ (grch.) die Zeit der Mediation – also 1h bis ca. 4 h.
4 Universität Freiburg Klinikum, Forschungschwerpunkt Meditation, Achtsamkeit und Neurophysiologie. Das Konzept Achtsamkeit (SCHAUBILD)

Ich empfehle auch den Artikel:

Karin Bundschuh-Müller, Akzeptieren heißt Verändern – Achtsamkeit und Akzeptanz in der Personenzentrierten und Experientiellen Psychotherapie, in: PiD, 3/2006, 7. Jg.